Let‘s talk about Wurst, Baby!

Mein Sohn Willi kann nicht sprechen. Er ist sechs Jahre alt, er hat das Down-Syndrom und das West-Syndrom, eine schwere Form der Epilepsie, die sein Gehirn im Säuglingsalter schwer geschädigt hat. Zu meiner größten Freude ringt Willi sich mit Mühe seit neustem das Wort Ma Ma ab. So viele Jahre habe ich darauf gewartet, nun kann er es und versteht auch langsam, dass man Mama sagen kann, damit Mama kommt.  Pa für Papa und Opa hat er schon seit längerem drauf, denn Papa ist der Größte! Das sind tolle Fortschritte, aber wenn man bedenkt, dass Willis Wortschatz damit genau fünf  Worte umfasst (zusätzlich gibt es noch ja, Aba für Auto, M für Kuh und Zast für Schaf) kann man sich ausrechnen, dass Willi in dem Tempo bis zur Pubertät etwa zehn „Wörter“ wird sprechen können.

Aber es gibt ja auch noch die Gebärden. In den letzten Jahren haben wir mit Willi einen relativ großen Wortschatz erarbeitet, der hauptsächlich Essbares umfasst, aber auch Spielzeuge, Lieder und natürlich Fernsehfilme. Schade nur, dass Willis Gebärden lediglich von einer Handvoll Leute spärlich verstanden wird.

Und so war und ist Kommunikation mit Willi ein Problem. Ein massives Problem, und es zerreißt mir das Herz, wenn ich Willis Verzweiflung sehe, weil er Bedürfnisse hat, die er uns nicht mitteilen kann, und es zerreißt mir die Nerven, wenn Willi laut und lauter schreien muss, um sich auszudrücken.

Vor einem Jahr wurde ich auf die Idee gebracht, für Willi einen Talker zu beantragen. Ich verfolgte das Thema zuerst nicht sehr zielstrebig, denn ich ging davon aus, dass Willi mit dem Gerät überfordert sein würde. Da Willi aber an unserem iPad eine ziemliche Hochbegabung zeigte, gingen wir doch in eine Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation. Ein paar Monate, Termine und Anträge später hatten wir unseren NovaChat 10 auf dem Tisch stehen, der eigentlich nichts anderes ist als ein Tablet-PC mit einer speziellen Kommunikations-Software und einem Gummischutz drum herum.

Erst einmal hatte ich ganz schön viel Respekt vor dem Ding. Es war so teuer und es sah so aus, also könnte unser wilder Willi es ziemlich schnell kaputt machen. Ich dachte auch, ich könnte am Anfang etwas falsch machen, so dass Willi seinen Talker nur als Spielzeug begreifen würde, auf dem man herum drückt, damit Geräusche herauskommen wie bei den Sachen, die er reihenweise im Schrank hat…

Und dann habe ich tatsächlich etwas falsch gemacht. Statt ihn mit dem Talker herumspielen zu lassen, dachte ich, ich müsste so etwas wie Therapieeinheiten mit dem Talker absolvieren. Ich nötigte Willi dazu, bestimmte Tasten zu drücken, und belohnte ihn dafür mit Gummibärchen. Willi war aber diese Form des Gummibärchen Essens zu anstrengend und er wurde bald schon genervt, wenn er den Talker nur sah. Erst als ich von meiner therapieverkrampften Haltung herunterkam, nämlich dass Willi das Gerät sofort zielgerichtet benutzen sollte, fand Willi Spaß an der Kiste. Wir stellten es beim Essen mit auf den Tisch, Willi drückte sich durch die Seiten mit Nahrungsmitteln hindurch und freute sich, wenn er etwa Pfannkuchen oder Eis entdeckte. Er verstand das Ebenensystem erstaunlicherweise sofort und konnte sich die Symbole oft schon beim zweiten Benutzen merken, unglaublich! Das nächste, womit mich Willi überraschte, war sein Humor! So bekam Willi zum Beispiel ein Brot und ihn in gewohnter Manier „Na Willi, ist das ein lecker Brot!“, wie üblich keine Antwort erwartend, und plötzlich drückte Willi „eklig“ und grinste mich an. Ich sagte „Nein, das ist doch ein lecker Brot“ und drückte „lecker“, worauf Willi erneut „eklig“ drückte und mir begeistert ins Gesicht lachte! Und ich begriff: Er hatte einen Witz gemacht!!!

Den Witz hat er seit dem gefühlte 10.000 Mal gemacht und das finde ich auch angebracht, wenn man die sechs Jahre vorher nie Quatsch reden konnte. Ein super Brüller aus Willis Sicht ist es auch, beim Abendbrot ständig Frühstück zu drücken und umgekehrt. Es amüsiert ihn köstlich! Vor dem Talker habe ich nicht mal geahnt, dass so ein kleiner Scherzbold in ihm steckt, denn es fehlten ihm die Worte oder wir haben ihn wahrscheinlich einfach korrigiert…

Den einen oder anderen unbeabsichtigten Witz hat Willi natürlich auch schon mit dem Talker gemacht. Zum Beispiel am Tag seiner Einschulung saß die ganze Familie am Kaffeetisch und alle redeten auf ihn ein, was er auf seinem Talker drücken sollte. In seiner Verwirrung kam er aus Versehen auf die Taste  „Ich sage nichts ohne meinen Anwalt“, was definitiv der Lacher des Tages war!

Ein Meilenstein für Willi war, als ich auf seinen Talker seinen Tischspruch vom Kindergarten gesprochen hatte. Als Willi zum ersten Mal in seinem Leben „Piep piep piep, Guten Appetit“ sagen konnte, ist er fast vom Stuhl gefallen vor Freude. Lange kam Willi aus der überschwänglichen Begeisterung nicht heraus, wenn er diese Taste drückte: Er lachte und lachte und lachte! Ich muss wohl nicht dazu sagen, dass das die schönsten Momente im Leben einer Mutter sind, wenn man sein Kind so glücklich sieht: Drei Jahre war Willi im Kindergarten und nicht EIN Mal konnte er den Tischspruch mit sprechen! Inzwischen dürfte er die drei Jahre aus meiner Sicht langsam aufgearbeitet haben… aber piept mit Leidenschaft weiter – gut so! Den aktuellen Tischspruch der Schule haben wir daneben auf eine weitere Taste gelegt.

Mittlerweile hat Willi herausgefunden, dass der Talker ihm einen großen, neuen Wortschatz über seine Gebärden hinaus liefert. Wenn Willi Wurst möchte, macht er meistens als erstes die Gebärde für Wurst und sagt dann noch mit dem Talker etwa „Ich möchte Salami“. Und bei einigen Dingen erfahre ich erst über den Talker, dass Willi sich für sie interessiert. Wenn ich zum zehnten Mal  „ich möchte Brezel“ höre, kann ich eine Gebärde für Brezel heraussuchen und natürlich bei nächster Gelegenheit Brezeln kaufen! Auf jeden Fall hat Willi das Ursache-Wirkung-Prinzip verstanden. „Ich möchte Eis“ drücken ergibt bestenfalls ein Eis, aber auf jeden Fall eine Antwort darauf: Er wird gehört! Das Ganze zu übertragen auf „Ich möchte fernsehen“ ist ihm (noch) nicht gelungen, aber dass er „Gib mir fünf“ drücken kann und dann jemand mit ihm abschlägt, findet Willi super!

Wir sind noch weit davon entfernt, mit Willi abstrakte Unterhaltungen zu führen, er ist und bleibt schwer geistig behindert, auch wenn man ihm einen Berg Verben und Präpositionen zur Verfügung stellt, kann er sie noch lange nicht benutzen. Aber ich bin erstaunt, wie schnell Willi das Prinzip des Gerätes verstanden hat und ich bin sicher, dass es uns noch einiges an Kommunikation mit unserem Sohn ermöglichen wird, welches uns sonst unmöglich gewesen wäre. Nicht zu vergessen, dass nun auch die Großeltern und Lehrer verstehen können, wenn Willi beim Essen mehr Soße auf seine Nudeln haben möchte, ganz ohne dass Willi dafür schreiben muss!

Und dann sind da noch diese ganz besonderen Momente, weshalb ich den Talker liebe: neulich fiel mir auf, dass Willi auf der Seite mit Musik und Instrumenten, immer wieder die Taste Lied drückte und sich dann zärtlich an meine Wange schmiegte. Da Willi sonst eher ein stürmischer Typ ist, war diese Berührung auffällig. Aber ich verstand nicht, was das mit einem Lied zu tun hatte. Am nächsten Tag beobachtete ich, wie Willi erneut das Wort Lied drückte und dann seinem Papa auf den Schoß stieg und sein Gesicht zärtlich umfasste. Und dann begriff ich: Willi hatte das Wort falsch verstanden! Er hörte lieb und hatte uns zum ersten Mal GESAGT, dass er uns lieb hat!!! Ich weiß nicht, ob ich so etwas Schönes schon erlebt hab! Lieb! Lieb! Lieb! DANKE!

Birte Müller

Ihre PRD-Berater deutschlandweit vor Ort

Rufen Sie uns an!

Profitieren Sie von unserem Know-how und dem bundesweiten Prentke-Romich-Beraternetzwerk. Für Sie vor Ort! Zentrale Terminvergabe unter: 0561 785 59-18

PRD - weltweit vernetzt und engagiert

In einem starken Verbund

Wir stehen national und international in engem Kontakt und intensivem Austausch mit vielen Firmen und Vereinen, die sich für Unterstützte Kommunikation einsetzen.